ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Yves Tanguy: Das Gesicht des Kindes
 
Tanguy Vervielfälltigung der Bögen
 
Yves Tanguy, "Vervielfältigung der Bögen", 1954
 

Sollte etwas dran sein an der Theorie des versponnenen Engländers Rupert Sheldrake, der zufolge konzentriertes Lernen, Denken oder künstlerisches Tun am Orte des Vollzugs sog. morphogenetische Felder entstehen läßt und hinterläßt, die dann dortselbst quasi in der Luft liegen und gemäß ihrer spezifischen Struktur die Ausbildung bestimmter Ideen, Einstellungen, Aktivitäten usw. begünstigen, so hätte man endlich eine plausible Erklärung dieses verblüffenden Vorgangs, bei dem der Sohn eines aus der Betragne stammenden „Aufsehers der niederen Angestellten“ im Marineministerium zum bedeutenden Künstler wird: Das Bett nämlich, in dem Yves Tanguy am 5. Januar 1900 in Paris zur Welt kommt, gehörte vorher Gustave Courbet (1819 - 1877), dem  künstlerisch wie politisch revolutionären „Hauptmeister des französischen Realismus“, einem Bürgerschreck also in doppelter Hinsicht. Ob jene morphogenetischen Impulsgeber  – die elektromagnetischen Felder, ihre physikalischen Vettern, bringen ja durchaus einiges zustande – auch die Fortsetzung, d.h., die Feinjustierung, den Schritt mithin zum Surrealismus induziert haben?

de Chirico Das Gehirn des Kindes

Giogio de Chirico, "Das Gehirn des Kindes", 1914

Im Jahre 1922 jedenfalls passiert Tanguy in Paris, was kurz zuvor Max Ernst in München widerfuhr und acht Jahre später Richard Oelze in Berlin widerfahren wird: Er gerät vor ein Schaufenster, das für die richtungweisende Offenbarung sorgt. Er sieht Giorgio de Chirico, den Erfinder der „Pittura metafisica“ und Großinspirator der surrealistischen Bewegung, genauer: dessen 1914 entstandenes Ölbild „Das Gehirn des Kindes“ – einen Erwachsenen im Bann seiner inwendigen Impressionen – und das macht Yves Tanguy zum Künstler.

Zum Künstler in spe! Denn inspiriert wird ein junger Mann, der nach eigener Aussage nie zuvor einen Pinsel in der Hand -, statt dessen anderthalb Jahre als Offiziersanwärter der Handelsmarine und den Militärdienst bei den Afrikajägern in Tunesien hinter sich hatte; danach diverse Tätigkeiten, u.a. die des Packers, Boten, Börsengehilfen versah, schließlich auch vom Amt des Straßenbahnführers – die Karambolage mit einem Heuwagen war schuld – jäh suspendiert wurde und nun von 180 Francs im Monat lebt, ausgezahlt vom „Amt für arbeitslose Intellektuelle“.
Was Tanguy dabei er- bzw. durchlebt, meist gemeinsam mit Jacques Prévert, dessen Gedichte später auch deutsche Lesebücher zieren, ist das klassische warming-up-program für angehende Avantgardisten, wie es in Grundzügen schon Malewitsch, Natalja Gontscharowa und die „Karo-Buben“ zu Beginn des Jahrhunderts in Moskau absolviert und der Kunstgeschichte übergeben haben: versehen mit dem Hinweis, daß sich Avantgardisten beim diesbezüglichen storytelling nicht fürchten müssen vor der altehrwürdigen Form der Anekdote!
Man experimentiert also mit sich und der Welt, sucht Grenzerfahrungen im Alkohol-, Kokain- oder Ätherrausch, die auch Briefkästen und Laternenpfähle einbeziehen; provoziert mitten auf der Rue du Chateau – die No. 54 ist ihr Domizil – die Stützen der Gesellschaft; rennt ansonsten – mit einer Passion für den deutschen expressionistischen Film – oft zweimal täglich ins Kino, zu Ballet-, Zirkus-, Jazzveranstaltungen. Tanguy kennt sich aus in den Lokalitäten der Pariser Sub- und den Mythen der bretonischen Megalithkultur und sieht – wie andere Bretonen auch – in den Menhiren „römische Legionen, die von keltischen Göttern zu Stein verwandelt wurden.“

Er liest „wie verrückt“ Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Lautréamont, interessiert sich brennend für Telepathie, für paranormale Phänomene generell, für „Fantômas“, den Helden der gleichnamigen Kriminalserie ebenso wie für die „Bildnerei der Geisteskranken“: Partiell zumindest müssen in seinem Kopf – das vermittelt die Punk-Frisur eines Selbstporträts aus dem Jahre 1925 – haarsträubende Zustände geherrscht haben!  Bei seiner „Treue zur Verrücktheit“ – und bestimmt lag auch „Les Champs Magnétique“ (Mitautor: André Breton) zeitweilig unter seinem Kopfkissen – ist  anzunehmen, daß er vor der Sheldrakeschen Theorie nicht kapituliert hätte.

Tanguy Toter seine Familie belauernd

"Toter, seine Familie belauernd", 1927

Wie diese kuriose Gestimmtheit zum Treibsatz eines rasanten Starts in die Kunst wird und einen Arbeitsprozeß evoziert, der im Wechselspiel von Introspektion und Formfindung schließlich zu Bildwerken der absoluten Extraklasse führt, daran erinnert die Staatsgalerie Stuttgart in einer umfassenden Retrospektive zu Tanguys 100. Geburtstag. Zu sehen sind 80 Gemälde, 50 Arbeiten auf Papier, darunter einige Exemplare der „Cadavres exquis“, jener „Köstlichen Leichname“, die 1925 als Gemeinschaftsproduktion („jeu surréaliste“) mit Tanguys Beteiligung entstehen. Dabei auch – sie gehören zu den rund 20 Arbeiten anderer Surrealisten – zwei sehenswerte, in Deutschland kaum bekannte Ölbilder der vormaligen Prinzipessa di San Faustino, Marchesa Bourbon del Monte Santa Maria, die nach ihrer Heirat mit Tanguy (1940 in USA) wieder als Kay Sage firmiert.

„Fantômas“ gegenüber der Eingangstür, ein düsterer, dilettantisch fabrizierter Bilderbogen aus dem Jahre 1925 über nächtliches Großstadtleben inklusive einer ins Schwarz gekratzten „ektoplasmischen Materialisation“, die in Horror-Comics auch heute noch gelegentlich auftaucht, eröffnet die Begegnung mit Tanguy. Und angesichts dieser Arbeit wird augenblicklich klar, daß er bei den Neusachlichen in Karlsruhe etwa so schnell nicht zu ersten Meriten gekommen wäre. Anders bei den Surrealisten, deren Manifest erst ein paar Monate auf dem Markt ist! Da noch keiner weiß, welchen Dialekt „die Sprache der Seele“ wählen wird, in welcher Form sich „die Allgewalt des Traums“, das „reine Denken“ artikulieren werden, zugleich aber alle auf ein eher naives, unmittelbares, „automatisches“ Hervorbringen in kindlicher Direktheit setzen und den – was immer das sei - „freien Ausdruck“ favorisieren, kommt ihnen Tanguy, ein ernsthafter Autodidakt, wie gerufen: André Breton, Spiritus rector der Bewegung, erkennt das Potential des vier Jahre jüngeren Mannes und wird sein verbalisierender Wegbegleiter.
Tanguys sofortige Reaktion: Er zerstört den größten Teil der bis dahin entstandenen, von Futurismus und Kubismus, von Grosz, Miro, Klee und den  Stummfilmen der frühen 20er Jahre beeinflußten Arbeiten und malt „blindlings einem Antrieb aus dem Innersten“ folgend, nächtliche Gefilde, Dünen im Dunst und anderweitig vernebelte Landstriche, in denen („Toter, seine Familie belauernd“) gespenstische Erscheinungen sitzen, schweben, schwimmen, wobei magische Zeichen und phallische Objekte die Szenerie künstlich verrätseln, da Form und Farbe, die genuinen Hausmittel der Malerei, erst andeutungsweise funktionieren.

Tanguy Mama, Pappa ist verwundet

"Mama, Papa ist verwundet", 1927

Für ein Bild dieser Serie allerdings, die erstmals im Sommer ´27 („Yves Tanguy et objets d´Amérique“) in Paris gezeigt wird, gilt diese Einschränkung nicht: „Mama, Papa ist verwundet!“ lautet der Titel und er bezieht sich auf das Jahr 1914 und den nächtlichen Ausruf eines Jungen in genau dem Moment, wo viele Kilometer entfernt (ich kenne solche Geschichten von meiner Großmutter aus der Oberlausitz!) sein Vater von einer Kugel getroffen wird. „Aber“ – so die vollständige Sentenz – „er ist nicht tot“.

Von den Personen und Vorfällen der titelgebenden Story ist nichts zusehen. Stattdessen – postiert in einer zwischen aschgrau und rosa changierenden immateriellen Weite – ein halbes Dutzend plastische Gebilde der Kategorie „Halma-Figur“. Deutlich konturiert, deutlich präsent, deutlich auch als plötzliche Hervorbringung dieser „Landschaft“ erkennbar, erscheinen sie in heller Beleuchtung, die schlagartig da ist wie nach einem abziehenden Gewitter: die Prototypen seiner „Objekt-Wesen“, die von da an Tanguys Bildwelten besetzen! Art und Weise ihres Auftritts zeigen an, daß nun die Bildmittel Regie führen und sie liefern auch sofort einen eleganten Beweis ihrer formalen Fähigkeiten. Eine schwarz-grau melierte Wolke nämlich  – auch von der Mache her ein Relikt aus den Anfängen – wird am rechten Bildrand des imaginären Feldes verwiesen: Evoziert durch den markanten Horizont (und einen anthropomorphen Kaktus, der den Betrachter nach hinten, gewissermaßen an den Start holt) vollzieht das Auge eine in Leserichtung gehenden Bewegung, die der Wolke einen optischen Schub verpaßt!

Mit der „Vertreibung“ des schwarzen Dunstes – die Schlagschatten der „Objekt-Wesen“ geben ihm den Rest – geht die Periode der „fumes“, der Rauch- oder Nebelbilder, zuende. Was nach dieser Phase entsteht, verzichtet auf Symbole, denn die Bildmittel implantieren den traumhaften Fundstücken, die hier im Prospekt einer „mentalen Landschaft“ zum Vorschein kommen, spirituelle Energie.

Fungieren sie als Sender suggestiver Signale, als Relaisstationen vielleicht? Haben sie oder ihresgleichen veranlaßt, daß der Sohn die Mutter über den Vater informierte?

 

 

 

Oder auch, daß ca. zehn, zwölf Zwanzigjährige – am Morgen des 9. Januar 2001 noch weiträumig verteilt auf Stuttgart und Umgebung  – nachmittags allesamt in dunkler Hose, schwarzer Kopfbedeckung und schwefelgelbem, rückseitig bedrucktem T-Shirt (etwa das Manifest?) in der Staatsgalerie vor Tanguys Bildern erscheinen (und dabei offensichtlich einer Falschmeldung aufsitzen, denn der schwarze Bowler ist Markenzeichen Magrittes, nicht Tanguys)?

Vielleicht wäre sie anders zu formulieren, aber die Frage stellt sich durchaus. In der Cafeteria spätestens, nachdem man die Verabschiedung der menschlichen Figuren, der Fauna und Flora und die Auflösung atmosphärischer Gegebenheiten registriert- und mit zunehmender Faszination der geräuschlosen Besetzung des leergefegten, befremdlich wirkenden Terrains durch jene „undefinierbaren Gebilde“, ihrer Vermehrung und permanenten Metamorphose beigewohnt hat, spätestens dann hat man vor Augen, was diese „Figuranten“ auch sind: eine  Provokation! Wie könnte man sie sehen bzw. begreifen – heute, 100 Jahre nach Nietzsches Tod und 101 Jahre nach Abschluß von Freuds „Traumdeutung“?

1916 werden sie erstmals fabriziert, und zwar von Hans Arp, der sich durch Fragmente ausgebleichter Holzknüppel, die er an Schweizer Seen findet, durch verwittertes Strandgut und abgeschliffene Steine anregen läßt. Vereinfacht, in Form unregelmäßiger Ovale, tauchen sie in Papiercollagen und farbigen Holzreliefs auf. Zehn Jahre später etwa landen sie in Paris, zunächst bei Miró, später bei Tanguy und Dalí. Man wird sie einer Verbeugung begrüßt haben, denn endlich – bis dahin geisterten sie nur als verbale Fiktionen durch ihre Köpfe: Lautréamont etwa spricht von einsamen Stellen im Mondenschein, wo „alle Dinge gelbe, unbestimmte phantastische Formen annehmen.“ Apollinäre erfindet „visuelle Lyrismen“, Artau „Methaphern in drei Dimensionen“.

Natürlich ist auch bekannt, was sie bewirken sollen. Bereits Gustave Flaubert – gern zitierter Kronzeuge der Surrealisten – beschrieb die Gefahren durch zunehmende Banalität, Rationalität, durch Fortschritt und Pragmatismus und forderte: „Man muß mit allen Mitteln einen Damm gegen die Flut von Scheiße bauen, die uns bedroht.“ Und Paul Eluard weiß sogar die Methode: Zu versuchen sei, „mit den Dingen, die sind, zu brechen und in voller Aktivität und Genese andere an ihre Stelle zu setzen.“

"Das Gewitter (Schwarze Landschaft)", 1926

Tanguys Das Gewitter(Schwarze Landsschaft) aus dem Jahr 1926 präsentiert ein entsprechendes Objekt in Form eines braunen Haufens, aber es wirkt noch wie der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Schon die folgenden Abwandlungen haben eine gänzlich andere Ausstrahlung. Bezüglich des Materials erinnern sie an verblichene Knochen, an Steine, Plastik, Metall oder tropfende Schokolade. Tanguy selbst spricht von „rosa Plüsch in der Größe einer Menschenhand“, von „gespreßter blaßgrüner Watte“, „fleischfarbenem weichen Wachs“ und „transparent-perlmutternem Zelluloid“ etc. Der Gestalt nach nehmen sie Verbindung auf zu den erwähnten Menhiren der Bretagne wie zu Organismen im Frühstadium ihrer Genese, zu archäologischen Fundstücken oder schwebenden Wasserklumpen in einer Raumkapsel. Sie besitzen die Aura des Aufbruchs und partizipieren an der bildhaften Kraft plastischer Urformen. Mit ihnen, kurzum, ist zu rechnen im avisierten „Prozeß gegen die reale Welt“ (Breton, 1924).

Tanguy Wunder der Meere

"Wunder der Meere", 1936

Tanguy Tage der Trägheit

"Tage der Trägheit", 1937

Der beginnt in den 30er Jahren, denn von da entstehen die „eigentlichen Tanguys“, Bilder wie Wunder der Meere (1936), Tag der Trägheit (1937); dann, bereits in den USA, The Indefinite Divisibility (1942), The Hunted Sky (1951) und Multiplication of he Arcs, ein Gemälde, das 1954, ein Jahr

"Unbestimmte Teilbarkeit", 1942

 vor Tanguys Tod fertig wird und ohne Zweifel zu den Top Ten des 20.Jahrhunderts gehört. Es sind die „pays mentaux“ (ab 1939: mindscapes), ausgedehnte Farbregionen ohne Horizont, submarine Landschaften und evokativer Grund, aus dem seine Objekte erwachsen und ihr geheimnisvolles

"Der gejagte Himmel", 1951

 Spektakel vorführen. In immer neuen Ausbildungen entfaltet sich das phantastische Potential jener Prototypen. Neben den räumlichen und meteorologischen Gegebenheiten ihres Auftritts verändern sich ihre Konsistenz, Größe, Form, Farbe, Oberfläche, ihre Anzahl sowie die Art des Zusammenspiels der Objekte. Sie erscheinen ohne gängiges Erkennungsmerkmal, erinnern nicht an Tischbein, Eselsohr, Türklinke, sind also provokant der pragmatisch-praktischen Sicht entzogen. Desgleichen bleibt ihr Bild, da sie emblematische Bedeutungen auf Distanz halten, vor spekulativer Betrachtung verschont. Befreit von gängigen Sinnzusammenhängen, profanen wie elitären, bringen sie ihre fremdartige, merkwürdig anrührende Schönheit störungsfrei an den Betrachter. Mit überwältigender Resonanz geschieht das angesichts des erwähnten Bildes Multiplication of the Arcs, das den unpathetischen Blick auf eine Landschaft zeigt, eine Akkumulation Tausender vielfältig geformter Objekte: Ausschnitt einer erdumfassenden „nature morte“, von oben, aus großer Entfernung gesehen und gestochen scharf „fotografiert“.

Beziehen Tanguys Bilder ihre Wahrheit, Wirkung, Schönheit aus der Entscheidung, die ungegenständliche Welt der Stimmungen und Ideen in Form plastischer Objekte darzustellen, ihnen Status, Präzision und Gewichtigkeit von Dingen zu geben?

Von der „Dingwerdung des Imaginativen“ spricht Marianne Kesting in diesem Zusammenhang. Aber sind Traumbilder das Ergebnis? Vielleicht kann man sich heute von dieser surrealistischen Konvention lösen und das landläufige „Traumbild“ als Großmetapher sehen, die dem technisch-zivilisierten 20. Jahrhundert den Kontakt ermöglicht zum „Strand, der unter dem Pflaster liegt“ und ansonsten von Verkörperungen sprechen, genauer: von Objektivierungen mentaler Befindlichkeiten. Die nämlich werden nicht durch Träume ausgelöst, sondern durch visuelle Vorstellungen à la Dürers „inwendiger Figur“ oder C.D. Friedrichs „Bild des geistigen Auges“. Beteiligt an diesem Prozeß ist, mehr als der Traum des Erwachsenen, was auch de Chirico wußte, „Das Gehirn des Kindes“!

Konkret 3/2001

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