ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Carl Einstein
Die Diktatur des malenden Mundes
     

Carl Einstein, Die Kunst des 20. Jahrhunderts. 5. Band der Gesamtausgabe. Fannei & Walz Verlag, Berlin 1996

Ludwig Meidner Porträt Carl einstein 1913

Ludwig Meidner, "Porträt Carl Einstein", 1913

Während Walter Benjamin, oft im gleichen Atemzug genannt, immerhin erreicht hat, daß die Goethe-Institute auf internationaler Bühne mit ihm gegen Tina Turner antreten („Frankfurter Rundschau vom 15.3.97), ist Carl Einstein (1885 - 1940) – zwischenzeitlich nahezu vergessen und erst seit den 70er Jahren wieder anwesend in der Kunst- und Literaturszene – bis heute ein Geheimtip geblieben.

Das könnte sich ändern, seit Die Kunst des 20. Jahrhunderts, erstmals 1926 erschienen, und zwar als 16. Band der Propyläen-Kunstgeschichte, wieder vorliegt: „Die Theorie der Farbe des Kandinsky ist das Bedichten der Farbtube, nicht viel mehr.“ Die verbalen Manifestationen der jungen russischen Konstruktivisten bezeichnet er als „Diktatur des malenden Mundes“, deren Werke als „Exzesse pedantischer Ordnung“. Man reagierte, so Einstein, auf die gesellschaftlichen Strukturen, auf die lethargische Grundstimmung („Oblomowerei“) des ausgehenden 19.Jahrhunderts mit „Lineal und Zirkel“, suchte neue Stabilität bei der Mathematik: „Dies war umso naiver, da man mit dem hundertprozentigen, erkenntnismäßig gesicherten Bild gerade begann, als die Mathematiker auf eine völlige Gewißheit ihrer Lösungen schamhaft verzichteten.“

Wassily Kandinsky, "Komposition VIII", 1923

Und  angesichts entsprechender Bilder prognostiziert er hellsichtig die Ankunft der Philosophen im Kunstbetrieb der Moderne: Nun nämlich sei gestattet, „das ärmliche Machwerk durch langwierige Philosopheme zu rechtfertigen.“

Otto Dix die Eltern des Künstlers 1921

Otto Dix, "Die Eltern des Künstlers", 1921

Auch das „andere Lager“ – Beispiel Otto Dix – geht keineswegs leer aus: „Vielleicht ist man im Herzen malender Revolutionär am linken Motiv.“ Was auffällt und die Lektüre tatsächlich zum Vergnügen macht, ist der frische professionelle Blick des Insiders. Hier näselt nicht einer im Konjunktiv, sondern formuliert direkt, konkret, provokant, aber auch einfühlsam und immer abgesichert durch Erfahrung und daraus resultierende Intuition. Er sieht die Kunst des ersten Jahrhundertdrittels zu einem Zeitpunkt, in dem der Prozeß ihrer Verklärung noch nicht angelaufen ist.

 

Seine Analysen erfassen nahezu sämtliche Künstler, die auch heute noch, 60 Jahre später, im Rennen sind. Über Otto Müller z.B.: „Unermüdlich wiederholte er den bescheidenen, etwas leeren Rhythmus seiner Mädchenakte; Reizendes mag vereinzelt gelungen sein, das meiste versinkt in magerer Süßlichkeit von Blau und Grün und eintönig stiller Linienführung.“

Otto Müller, "Drei Akte unter einem Baum", 1913

Oder zu Franz Marc: „Mark verläßt die «ichsüchtige Enge» der Menschendarstellung, um die Tiere zu malen – «nicht, wie ich sie ansehe, sondern wie sie sind (wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen)». Der Instinkt leitet ihn von dem Lebensgefühl für den Menschen zu dem Gefühl für die reinen Tiere.“

Franz Marc Turm der blauen Pferde 1913

Franz Marc, "Turm der blauen Pferde", 1913

Die Texte wirken, als seien sie unmittelbar nach Ausstellungs- oder Atelierbesuchen geschrieben, sind zugleich aber von einer Übersicht und Klarheit, wie sie in der Regel erst bei größerer zeitlicher Distanz zustande kommen. (Einschub 2015: Wenn Roger M. Buergel, Leiter der 12. Documenta, 2007 konstatierte, daß es, was ästhetische Formen betrifft, einen kompletten Analphabetismus gäbe: hier, bei Carl Einstein kann man lernen bzw. rekapitulieren, auf welche Weise Formen, Bildmittel generell, funktionieren und was passiert, sobald Künstler – aufgrund innerer Befindlichkeit etwa oder doktrinärer Verengung – mit halb- oder ungeklärten Formerfindungen in Serie gehen, aber zugleich auch nachlesen, nachvollziehen, wie – u.a. bei Paul Klee oder Franz Marc – über gelungene, im Kontakt sowohl mit der inneren Vorstellung als auch mit der sichtbaren Welt entstandene Formfindungen neue Perspektiven, Einstellungen, Haltungen greifbar werden.)

Hat Carl Einstein, der sich auch später, in Die Fabrikation der Fiktionen noch einmal vehement gegen die Vernichtung „des Realen“ wandte, im Hinblick Auf Konstruktivismus und Abstraktion einen Fauxpas fabriziert? Oder hatte er diesbezüglich den weitesten Weitblick?

 

Erschienen in Konkret 10/97 (und eine kurze Erweiterung)

 

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